B. Rutishauser Ramm: An morgen denken

Apr, 2022

Seit über 20 Jahren ist sie im Einsatz – im Kosovo, in Tschetschenien oder in Syrien. In Flüchtlingslagern, Krankenhäusern oder Gefängnissen. Egal, ob bei kriegerischen Konflikten, bei Naturkatastrophen oder bei der Armutsbekämpfung – als Notfallpädagogin hat Beatrice Rutishauser Ramm rund um die Welt in unterschiedlichsten Krisensituationen gearbeitet, Lehrpersonen weitergebildet und deren Arbeit mit den Kindern begleitet, zum Teil über viele Jahre. Ein beeindruckendes Expertengespräch.

Welche Hilfe brauchen geflüchtete Kinder ganz aktuell?

Das Gefühl von Sicherheit und Stabilität. Und je nach Alter des Kindes bedeutet dies durchaus ganz unterschiedliche Dinge. Kleinere Kinder zum Beispiel benötigen mehr als alles andere einen täglich gleichen Rhythmus und viel Zuneigung. Darüber hinaus natürlich Spielmöglichkeiten, die so gestaltet sind, dass das Kind sich in geborgen und sicher fühlt – sei es durch die Anwesenheit eines Erwachsenen oder auch eines Geschwisterkindes. Wichtig sind für die Kleinsten Rituale, wie zum Beispiel das abendliche Vorlesen einer Gute-Nacht-Geschichte. So kann der Tag positiv abgeschlossen werden.

Grundschulkinder dagegen wollen schon verstehen, was gerade passiert und warum. Diesen können wir Sicherheit geben, indem wir ihnen Zusammenhänge altersgerecht erklären. So verringern wir ihre Ängste und sie fühlen sich selbst kompetent und handlungsfähig. Denn Kinder in diesem Alter wollen mithelfen, zum Beispiel, dass es der Mama oder den Geschwistern gut geht. Hier gilt es darauf zu achten, eine Überforderung der Kinder in dieser Rolle des Unterstützers zu vermeiden. Treten bei ihnen Auffälligkeiten wie plötzliches Bettnässen auf, ist dies ein Hinweise auf eine Überforderung die gemeinsam bearbeitet werden muss.

 

Kinder in Richtung Teenageralter dagegen haben viele Sorgen, die die nahe Zukunft angehen. Sie fragen sich, ob sie die Anforderungen der neuen Schule erfüllen, wie sie neue Freunde finden oder wo sie wohnen werden. Diese Kids brauchen ein Rüstzeug, das ihnen hilft, all diese neuen Situationen zu meistern.

Was ist eigentlich Notfallpädagogik?

Notfallpädagogen sind Brückenbauer. Und überall da im Einsatz, wo plötzlich und unvorhergesehen eine Situation in Schieflage geraten ist. Wir kümmern uns beispielsweise um Schulbücher, wenn es keine gibt. Oder wir zeigen den Pädagogen, wie sie auch ohne Bücher unterrichten können. Das ist besonders in Flüchtlingslagern der Fall – denn da gibt es ja keine „offiziellen“ Schulen. Da sorgen wir dafür, dass die Kinder trotz der schwierigen Umstände Lernen können. Notfallpädagogen arbeiten so, dass die Unterrichtsmethodik im Vordergrund steht und so gewählt ist, dass der Unterrichtsinhalt prozessual verarbeitet werden kann.

Was unterscheidet den Alltag vom Notfall?

Ein Kind, das sich in einer extremen Stresssituation befindet oder ein traumatisches Erlebnis hatte, will grundsätzlich immer noch lernen. Aber es muss es anders tun als in einer normalen Situation. Und dennoch muss geleistet werden. Das Problem: Traumatisierte Kinder wollen nicht nach Antworten suchen. Sie verdrängen, möchten nicht, dass Erinnerungen hochkommen, die sie vergessen wollen. Dieser Umstand verändert das Lernen grundlegend. Hier ist meist praktisches Erarbeiten eher als Kopfarbeit der Ansatz. Wir Notfallpädagogen stehen den Lehrern zur Seite, um ihnen die Situation dieser Kinder transparent zu machen und Lerntechniken zu zeigen, die das Kind selbst aktiv anwenden kann. 

Wie arbeitet ein Notfallpädagoge mit den Kindern?

Den Kindern einen sicheren Rahmen zu schaffen, steht auf jeden Fall im Vordergrund. Innerhalb dieses Rahmens werden positive Gemeinschaftserlebnisse ermöglicht. Dabei wird vor allem mit dem Körper gearbeitet, um das Nervensystem zu entlasten. Und es werden Tätigkeiten angeboten, die dem Kind ermöglichen, sich selbst auszudrücken. Dabei führen wir mit den Kindern die Gespräche so, dass sie selbst keine Fragen beantworten müssen. Sie können selbst entscheiden, was sie erzählen möchten und ob sie überhaupt etwas erzählen wollen.

Die Kinder sollen im Gespräch mit den Pädagogen wie auf einem Gedankenspaziergang mitgenommen werden, damit sich neue Assoziationen bilden können. Märchen sind in dieser Lebenslage ein probates Mittel, da in den „Bildern“ oft die eigene Situation von Verlust und Angst, von Gut und Böse sehr eingängig beschrieben wird. Und – ganz wichtig – am Ende das Gute immer gewinnt. Zudem zeigen wir ihnen, wie sie sich mit Lernhilfen das durch das Trauma verlorene Wissen wieder zurückerobern können – sei in der Mathematik oder in einer Fremdsprache.

Wie muss Hilfe nach der Nothilfe aussehen?

In einer zweiten Phase realisieren Kinder viel bewusster, was passiert ist. Je nach Alter passiert das früher oder später. Jetzt ist es wichtig, die Kinder zu begleiten, damit sie Strategien kennenlernen, um die neuen Anforderungen meistern zu können. Hier muss das Lehrpersonal auf die angeborene Neugierde setzen und die natürliche Lernfreude der Kinder mobilisieren. Das ist eine echte Herausforderung, noch dazu, wenn das – wie so oft – in einer neu zu erlernenden Sprache gelingen muss.

Erst in der dritten Phase versucht man, verstärkt am Selbstwertgefühl der Kinder zu arbeiten und die eigene Stärke und Kontrolle über das eigene Leben wieder zu erlangen.

Worauf zielt der EduCare Europe Fund ab?

Viele unserer Partner fühlen sich überfordert und allein gelassen im Umgang mit Kindern aus Krisengebieten. Sie spüren, dass das, was die Kinder erlebt haben, eine andere Antwort braucht als nur „Das Kind kann wieder in die Schule gehen“. Es ist eine Integrationsaufgabe, die immer die ganze Klasse und die ganze Schulgemeinschaft betrifft.

Diese Aufgabe kann die Schule nicht alleine bewältigen, deshalb braucht es außerschulische Räume, als Rückzugsort, als Ort der Freude, ohne Angst vor Überforderung, um stark zu werden. Wenn diese Räume dann auch noch mit den Schulen verbunden sind, können auch entsprechend Sprachunterricht, Elternarbeit und andere schulnahe Programme angeboten werden.

Für diese Integrationsarbeit haben wir das Know-how, um Betreuungs- und Lehrkräfte weiterbilden zu können. Die PATRIZIA Foundation arbeitet hier mit Partnern zusammen.

Ich selbst habe mich mehr auf das Pädagogische spezialisiert. Damit sind wir ein gutes Team und können unsere Erfahrungen für Schulungen gemeinsam zur Verfügung stellen. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die Integration von Kindern aus Krisengebieten eine riesige Aufgabe ist. Allein, weil es so viele Kinder betrifft.

Das Interview führte Andreas Menke.

Beatrice Rutishauser Ramm

Beatrice Rutishauser Ramm ist ausgebildete Pädagogin mit einem Master in „Global Education“. Nachdem sie zehn Jahre als Lehrerin tätig war, hat sie fast zwanzig Jahre als Notfallpädagogin für die Caritas Schweiz gearbeitet. Die internationalen Einsatzgebiete waren gekennzeichnet durch chronische oder akute Krisen. Seit Anfang 2020 ist sie als unabhängige Beraterin für notfallpädagogische Themenbereiche aktiv. Im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Caritas Schweiz hat sie „Essence of Learning“ (EoL) entwickelt und damit einen adaptierbaren Ansatz geschaffen, der Kinder in ihrem Lernbedürfnis abholt – allen Krisen zum Trotz. EoL kommt in Programmen für unterschiedliche Altersstufen sowohl inner- als auch außerschulisch zum Einsatz. 2017 wurde der Ansatz vom UNHCR für den „Humanitarian Educational Accelerator“ (HEA) ausgewählt und gefördert. Seit September 2020 unterstützt die Pädagogin die PATRIZIA Foundation mit ihrer Expertise. Ihre Podcast-Serie „We are in this together“ war bei den mEducation Alliance Awards 2021 unter den Top 3 in der Kategorie „Crisis and Conflict Response“.

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