Seit Kriegsbeginn am 24. Februar dieses Jahres in der Ukraine sind bis Anfang Mai rund 5,7 Millionen Menschen aus ihrer Heimat geflüchtet. Polen hat davon mit über drei Millionen Menschen mehr als die Hälfte aufgenommen. Welcher Kraftakt für das Land damit verbunden ist, macht ein Vergleich deutlich: In den ersten zehn Wochen hat Polen mehr als dreimal so viel Geflüchtete aufgenommen wie Deutschland im Gesamtjahr 2015 – dem Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise. Ein Gespräch mit Pater Zenon Hanas über Zeiten des Ausnahmezustandes.
Wie muss man sich die aktuelle Situation in Polen vorstellen?
Polen ist für viele Ukrainer der bevorzugte Zufluchtsort und so platzt Warschau schon jetzt aus allen Nähten. Normalerweise leben hier zwei Millionen Menschen. In den letzten Wochen ist die Bevölkerung in der Hauptstadt um rund 20% angestiegen. Anders als in Deutschland gibt es in Polen aber so gut wie keine staatlichen Strukturen für Flüchtlingshilfen. Das heißt, der Großteil der Menschen kommt privat unter.
Wie helfen die Pallottiner?
In Polen verfügen wir unter anderem über zehn größere Bildungshäuser, in denen wir normalerweise Bildungsseminare und spirituelle Konferenzen abhalten. Diese nutzen wir jetzt als Flüchtlingsunterkünfte. Aktuell beherbergen wir dort rund 500 Menschen, die länger in Polen bleiben wollen. Zudem werden über unsere mehr als 30 Pfarreien Tausende Ukrainer in polnischen Familien untergebracht –teils für ein paar Tage, teils auch länger.
Was für Menschen beherbergen sie dort?
Wie überall sind es das vor allem Kinder, ihre Mütter und Großmütter. Was uns aber unterscheidet: Die Menschen aus der Ukraine kennen uns Pallottiner, da wir seit 30 Jahren dort bekannt sind. Der Großteil ist tatsächlich über Pallottiner-Kontakte zu uns nach Polen gekommen. Insofern haben wir ein besonderes Vertrauensverhältnis. Das hilft ungemein bei der Integration – nicht nur in unseren Bildungshäusern, sondern auch in den jeweiligen Familien.
Was zeichnet die Unterstützung der Pallottiner aus?
Neben Unterkunft und Verpflegung schaffen wir die Voraussetzungen, dass sich die Menschen schnell im neuen Umfeld integrieren können. Wir fangen dabei bei den Kindern an. So besteht die Möglichkeit, dass die Kinder eine polnische Schule besuchen. Auch wenn die Schriften unterschiedlich sind, haben beiden Sprachen doch die gleiche Herkunft. Eine andere Option ist es, dass die ukrainischen Kinder Online-Unterricht in ihrer Heimatsprache erhalten. Corona hat in den letzten zwei Jahren hierfür die Voraussetzungen geschaffen. Und in den größeren Städten Polens sind sogar bereits Schulen entstanden, die von ukrainischen Lehrern geführt werden. Egal welche Unterrichtsoption wahrgenommen wird, am Nachmittag erhalten alle ukrainischen Schüler Sprachkurse in Polnisch. Die Kinder kommen mit der Situation ganz gut zurecht. Dabei hilft es, dass sie meistens gut ausgebildet sind und auf ihre Sprach- und Computerkenntnisse zurückgreifen können.
Woher bekommen Sie die finanziellen Mittel, um all das zu finanzieren?
Wir sind auf Spenden und Sponsoren angewiesen – wie etwa die PATRIZIA Foundation. Aus den Mitteln des EduCare Europe Fund finanzieren wir zum Beispiel verschiedene Maßnahmen in unserem Seminarhaus in Warschau. Hier leben derzeit 80 Familien, für die wir nun eine Infrastruktur aufbauen müssen – beispielsweise Sanitäreinrichtungen und Küchen. Zudem finanziert der EduCare Europe Fund spezielle Betreuungsprogramme für Kinder jeden Alters und richtet sogenannte „Safe Spaces“ für kleine Traumapatienten ein.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Zuallererst gilt es, die geflüchteten Menschen aus der Ukraine hier in Polen bestmöglich zu betreuen und zu integrieren. Aber wir müssen uns auch auf die Zeit nach dem Krieg vorbereiten und den Ukrainern beim Wiederaufbau ihres Landes helfen. Die Menschen brauchen genau diese Perspektive. Sie schafft Vertrauen in die Zukunft und hilft so die Gegenwart besser zu bewältigen.
Das Interview führte Andreas Menke.
Pater Zenon Hanas und die Pallottiner
Die Pallottiner sind eine religiöse Männergemeinschaft innerhalb der katholischen Kirche. Sie wurde 1845 von Vincenzo Pallotti in Rom gegründet. Heute ist die Gemeinschaft auf allen Kontinenten vertreten und zählt rund 2500 Mitglieder. Pater Zenon Hanas engagiert sich seit 1982 als Priester für die Gemeinschaft. Heute verantwortet er als Provinzial die Warschauer Pallottinerprovinz mit insgesamt 350 Priestern. Zu seinem Verantwortungsgebiet gehört auch die Ukraine. Seit 1991 sind die Pallottiner mit zehn Pfarrgemeinschaften dort vertreten, die von 20 Priestern vor Ort betreut werden. Neben den großen Bildungsstätten in Odessa, Kiew oder Lviv gibt es auch kleinere Gemeinden in der Ost- und Zentralukraine. Während die größeren Häuser im Westen der Ukraine als Unterkunft für durchreisende Flüchtende genutzt werden, dienen die Kellerräume der Kirchen als Schutzräume in der Nacht für die Bewohner der umliegenden Häuser.
Pater Zenon Hanas wurde in Polen geboren. In München studierte er an der Hochschule für Philosophie und promovierte dort später im Fach Kommunikationswissenschaft. Bevor er im Jahr 2017 Provinzial der Warschauer Pallottinerprovinz wurde, war er für sechs Jahre als Vize-General in Rom tätig.